DIE KOMPONISTINNEN VON LP22 RINGS &WINGS
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Emilie Mayer (1812, Friedland/Mecklenburg – 1883, Berlin)
Die Komponistin und Pianistin Emilie Luise Friederika Mayer stammt aus einer begüterten norddeutschen Apothekerfamilie. Von kleinauf wurde ihr Talent gefördert. Ab dem fünften Lebensjahr hatte sie Unterricht beim Friedländer Organisten Carl Driver, der sie auch zum Komponieren ermutigte. Nach dem Tod des früh verwitweten Vaters zog sie 1841 nach Stettin, um bei Carl Loewe Komposition zu studieren. Damals schrieb sie ein Singspiel, Lieder, Kammermusik und erste Sinfonien. Mit 35 Jahren zog Emilie Mayer auf Empfehlung von Loewe nach Berlin und setzte ihre Ausbildung bei Adolf Bernhard Marx fort. In dieser Zeit unternahm sie auch Konzertreisen im deutschsprachigen Raum. In Berlin führte sei einige Jahre einen bedeutenden Salon. Von 1862 bis 1876 lebte sie in Stettin bei ihrem Bruder, Apotheker wie der Vater, komponierte vor allem Kammermusik und kümmerte sich um die Drucklegung ihrer Werke. Im Alter zog Emilie Mayer, die zeitlebens ledig blieb, erneut nach Berlin. Sie wurde „weiblicher Beethoven“ genannt , weil sie im Gegensatz zu anderen Komponistinnen ihrer Zeit viel Orchestermusik geschaffen hat, darunter acht Sinfonien und fünfzehn Konzertouvertüren, aber auch Chormusik und mehrere Streichquartette, Werke die in ganz Europa aufgeführt wurden. Heute werden ihre vom romantischen Aufbruch geprägten Werke, in denen tiefe Emotionen, leidenschaftliche Dialoge und überraschende Wendungen zu finden sind, wieder neu entdeckt.
Laura Netzel (1839, Rantasalmi/Südost-Finnland – 1927, Stockholm)
Laura Netzel stammte aus einer finnischen Adelsfamilie. Nach dem frühen Tod der Mutter kam Laura Constance Pistolekors, so ihr Geburtsname, bereits als Einjährige mit ihrer Familie nach Schweden. In Stockholm erhielt sie die musikalische Grundausbildung und studierte Gesang, Klavier sowie Komposition. Als Jugendliche trat sie bereits öffentlich als Solistin in Klavierkonzerten auf. Später führte sie ihr Studium in Paris bei Charles-Marie Widor weiter. 1866 heiratete sie den Gynäkologen Wilhelm Netzel. Ihre Kompositionen veröffentlichte Laura Netzel unter den gender-neutralen Pseudonymen Lago und N. Lago, erst 1891 lüftete sie ihre Identität. Sie hat Lieder, Chorwerke, Orchestermusik und Kammermusik geschrieben, darunter markante Charakterstücke, die nicht zuletzt die impressionistischen Impulse Frankreichs und die damals beliebten Einflüsse fernöstlicher Traditionen verarbeiten. Laura Netzel machte sich auch einen Namen als Dirigentin von Chor- und Orchesterkonzerten. Zudem organisierte sie mehrere Jahre in Stockholm und auch in Paris „Arbeiterkonzerte“, die sozial benachteiligte Menschen für wenig Geld besuchen konnten, oft unter Mitwirkung namhafter Interpret:innen. Als Journlistin war Laura Netzel nicht nur Stockholm-Korrespondentin für Le Monde musical, sondern machte sich auch für Frauenrechte stark. Sie gründete außerdem ein Kinderkrankenhaus und eine Wohnstätte für mittellose Frauen.
Amanda Maier ( 1853, Landskrona/Schweden – 1894, Amsterdam)
Carolina Amanda Erika Maier wuchs in der südschwedischen Hafenstadt Landskrona auf. Sie erlernte Klavier und Geige zunächst beim Vater, einem deutschen Dirigenten und Konditor. Mit 16 Jahren begann sie ihr Studium an der Königlich-Schwedischen Musikakademie in Stockholm in den Fächern Geige, Orgel, Klavier, Komposition, Musiktheorie und Dirigeren. Danach studierte sie am renommierten Leipziger Konservatorium Komposition beim Leiter des Gewandhausorchesters Carl Reinecke und Violine beim dortigen Konzertmeister Engelbert Röntgen. In Leipzig schrieb sie ihr Violinkonzert, das u. a. 1876 in Leipzig und später an der Stockholmer Oper aufgeführt wurde. Zwischen 1876 und 1880 unternahm sie als Violinistin mehrere Gastspielreisen durch Skandinavien und Russland und trat auch als Organistin in Erscheinung. 1880 heiratete sie ihren ehemaligen Mitstudenten Julius Röntgen, den Sohn ihres Professors. Ihrem Ehemann folgte sie nach Amsterdam, wo er als Klavierlehrer arbeitete und die Musikhochschule mitbegründete. Gemeinsam trat das Paar als Duo auf, allerdings vorwiegend bei privaten Soiréen. Die öffentliche Karriere als Violinistin war für Amanda Maier beendet. Sie komponierte jedoch weiterhin, vorwiegend Kammermusik, und wurde von befreundeten Kollegen wie Grieg und Brahms sehr geschätzt. Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes 1886 brach bei ihr eine Lungenkrankheit aus, wahrscheinlich Tuberkulose. Mit 41 Jahren starb Amanda Maier nach einem Schwächeanfall.
Pauline Oliveros (1932, Houston/Texas – 2016, New York City/New York)
Die Komponistin und Performerin Pauline Oliveros studierte ab 1949 in Houston und später in San Francisco.
Sie hat vielfältige Stücke für Orchester und Kammerbesetzungen sowie Vokalwerke geschrieben und war eine wegweisende Impulsgeberin der Elektronischen Musik, die sie seit den frühen 1960er Jahren am San Francisco Tape Music Center mitprägte. Zudem war sie eine Pionierin für Multimedia-Kunst, sie brachte schon früh Lichtwirkungen, Schauspiel, Film und Projektionen in ihre Kompositionen. Von 1967 bis 1981 war Pauline Oliveros Direktorin des Center for Music Experiment an der University of California, San Diego. 1985 gründete sie in Kingston/New York die Pauline Oliveros Foundation, wo sie das Prinzip des Deep Listening entwickelte, eine Verbindung von Komposition, Improvisation, Meditation und Ritualen unter Einbeziehung des Raums. In diesem interdisziplinären Ansatz in den Künsten und in ihren Weichenstellungen für die Klangkunst war Pauline Oliveros visionär. Zudem bildete sie dabei einen erweiterten Begriff von Klang aus, der bis heute in der Kompositionspraxis nachwirkt. Schon 1967 hat sie in ihrer in Echtzeit am Moog-Synthesizer, Tonbandgeräten und Steckfeldern eingespielten Komposition A Little Noise in the System etwa das Rauschen ins Zentrum einer Komposition gestellt. 2017 war Pauline Oliveros postum mit Arbeiten auf der documenta 14 in Kassel vertreten.
Charlotte Torres ( 1978, Annecy/Frankreich)
Die Komponistin und Pianistin Charlotte Torres ist in der ostfranzösischen Alpenstadt Annecy aufgewachsen und lebt heute in Basel. Sie studierte zunächst klassisches Klavier, gewann mehrere internationale Wettbewerbe und absolvierte anschließend ein Masterstudium in freier Improvisation in Basel sowie Komposition bei Xavier Dayer und Simon Steen-Andersen in Bern sowie bei Philippe Manoury in Strasbourg. Ihre Solo- und Ensemblewerke, die auch Vokaleinsatz und Elektronik umfassen, erlauben überraschende Erkundungen, sogar in herkömmlichen Besetzungen. Ihre Stücke bieten „die Erfahrung einer bewegenden, radikalen und gebrochenen Musik“, sagt Charlotte Torres selbst über ihr Schaffen, „es handelt sich also um eine destabilisierende Musik, die ohne Angst ein Risiko eingeht. Mit viel Humor als Gegengewicht.“ In den letzten Jahren hat sie in ihren Kompositionen auch den Performance-Aspekt beim Produzieren von Klängen verstärkt in den Fokus genommen und ihre Kammeroper Corpus#1 (2019) für vorher aufgenommene Stimmen und Ensemble vorgestellt. Charlotte Torres hat zudem Werke für den Nachwuchs geschrieben, etwa Werke mit Kinderchor und Klavierstücke, bei denen die Mitwirkenden entweder in den Entstehungsprozess einbezogen wurden oder das Publikum partizieren konnte. Außerdem entwickelt sie neue, partizipative Formate: So verbindet Charlotte Torres‘ in Zusammenarbeit mit weiteren Künstler:innen in Basel entstandenes Raumklang-Projekt Pling, Skratsch, Brumm (2015) Klanginstallation, Performance und Konzert.
Michèle Rusconi ( 1960, Basel)
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Die Komponistin und Multiinstrumentalistin Michèle Rusconi hat im Laufe ihrer Karriere eine reiche Erfahrung in vielfältigen Musiktraditionen gesammelt. 1979 war sie Mitglied des Basler Gamelan Orchesters, ab 1981 studierte sie in Boston Jazz-Klavier und erlernte auf Bali verschiedene Gamelan-Instrumente. 1983 zog sie nach Madrid, wo sie in Jazzformationen und als Keyboarderin bei Flamencoprojekten mitwirkte. 1988 ging sie nach New York, wo sie ihre Studien weiterführte, mehrere Jazzgruppen gründete und in Salsa-Ensembles spielte. In Haiti sammelte sie praktische Erfahrungen in der Méringue-Tradition. Weitere Stationen waren Malaysia und erneut New York, wo sie bei David Del Tredici studierte. In Freiburg im Breisgau setzte sie ihre Studien in Komposition bei Mathias Spahlinger und Elektronik bei Mesías Maiguashca fort. Heute lebt Michèle Rusconi in Basel und Berlin. Ihre Werke zeichnen sich durch rhythmisches Temperament, überraschende Farben und markante, lebhafte Gestalten aus. Die New York Times hat die „explosiven Gesten“ in ihrer Musik hervorgehoben. In den letzten Jahren setzt sich die Komponistin verstärkt mit Literatur und Wissenschaft auseinander, von Italo Calvino über Hanoch Levin bis Charles Darwin, vor allem in Musiktheaterwerken. 2022 hat Michèle Rusconi eine Forschungsreise nach Südafrika unternommen auf den Spuren der Quastenflosser, lebender Fossilien aus dem Devon im Indischen Ozean, die lange Zeit als ausgestorben galten. Sie arbeitet gerade an einem umfangreichen Hörstück zum Thema.
Juliana Hodkinson (* 1971, Exeter/England)
Juliana Hodkinson studierte zunächst am King’s College in Cambridge Musikwissenschaft und Philosophie sowie an der University of Sheffield Japanologie, bevor sie 1993 nach Dänemark zog und Kompositionsstudentin bei Per Nørgård und Hans Abrahamsen wurde. 2007 promovierte sie an der University of Copenhagen über das Thema Konstitutive Stille in der Musik und Klangkunst seit 1950. Seit 2009 lebt sie in Berlin. Juliana Hodkinson hat Komposition an Hochschulen in Kopenhagen, Aarhus, Berlin und Göteborg gelehrt. In ihren eigenen Werken arbeitet sie oft intermedial und interdisziplinär, sie integriert visuelle und theatrale Ebenen und setzt in ihren Kompositonen Field Recordings, Samples, Geräusche oder Alltagsgegenstände ein, etwa Daunenfedern, Eierschalen und Tischtennisbälle. Dabei hinterfragt Juliana Hodkinson stets, wie wir auf Musik regagieren. Sie kreiere Klänge, die sogar die Ausführenden an den Instrumenten überraschen, mit unvorhersehbaren Formverläufen und Stimmungen, heisst es euphorisch in einer Kritik. Juliana Hodkinsons Werke umfassen Kammermusik, Instrumentaltheater und grossformatige audiovisuelle Stücke, die sie teils gemeinschaftlich mit anderen Künstler:inen entwickelt. Als erste Frau und Nicht-Dänin erhielt Juliana Hodkinson 2015 in Kopenhagen den Carl Nielsen Preis. Ihre Musik zeichne eine „fragile Sensibilität gegenüber der realen Welt aus“ und gleichzeitig „die Kraft zur grossen, romantischen Geste“, so die Jury-Begründung.
Stephanie Haensler ( 1986, Baden/Aargau)
Die Violinistin und Komponistin Stephanie Haensler ist in Turgi/Aargau aufgewachsen und studierte an der Zürcher Hochschule der Künste. Als Violinistin hat sie weitreichende Erfahrungen in der Alten Musik, aber auch in Klassik und Romantik gesammelt. Ausgehend von einer „Durchlässigkeit zwischen den Zeiten“, wie sie es nennt, denkt sie auch in ihren Kompositionen historisch: Stephanie Haensler kommentiert und bespiegelt in ihren Werken immer wieder Momente der Musikgeschichte im Sinne einer Reflexion von Erinnerung und historischen Bedingungen. Zudem sind gerade ihre Instrumentalwerke oft von Sprach- und Textstrukturen aus der Literatur inspiriert, die sie im analytischen Zugriff untersucht. Musik als ephemeres Phänomen, als klingende Zeit und Aspekte der Erinnerung von Klingendem nimmt Stephanie Haensler ebenfalls in den Fokus, sei es bei einer Musiktheater-Installation oder bei Kammermusik in vielfältigen Besetzungen. Stephanie Haensler sagt über ihr Schaffen: „Mit jeder neuen Komposition versuche ich eigentlich nichts anderes, als musikalisch nachzudenken über ein Thema.“ Seit 2019 entwickelt Stephanie Haensler gemeinsam mit der Designerin Laura Haensler als LAUTESkollektiv interdisziplinäre Projekte zu gesellschaftlichen Fragestellungen an Schnittstellen von Musik, Videokunst und Design. So haben sie in Zürich im Zuge ihrer Zusammenarbeit die Geschichte des Frauenstimmrechts in der Schweiz behandelt.
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Eckhard Weber